Freiheit statt Frechheit, Malerin statt Muse

20.10.2023 – 18.2.2024 | Leopold Museum

Expressionismus-Alarm in Wien! Das Werk von Gabriele Münter (1877–1962) wird in einer opulenten, erstmals umfassenden Schau kuratiert von Ivan Ristić in Österreich präsentiert und gleichzeitig ist eine ebenso hervorragende Ausstellung zu Max Oppenheimer (1885–1954), kuratiert von Direktor Hans-Peter Wipplinger, im Leopold Museum zu sehen. Diese glückliche Verbindung ist für den Betrachter äußerst gewinnbringend. Wie die Gegenüberstellung mit Mopp (Max Oppenheimer) deutlich macht, gab es in der expressionistischen Bewegung ausgeprägte deutsche Tendenzen, die nicht mit den südlichen Nachbarn geteilt wurden, und es gibt ganz konkrete sichtbare Unterschiede in der Herangehensweise an die Kunst zwischen Frauen und Männern. Diese Möglichkeit zum „Vergleichen und Kontrastieren“ macht das Leopold Museum in dieser Saison zu einem Mekka für alle Liebhaber der Kunst des frühen bis mittleren 20. Jahrhunderts.

Gabriele Münter wird zu Recht als wichtige Künstlerin bezeichnet, die mit ihren kühnen, schnörkellosen Werken, die vor Freude an satten, tief gesättigten Farben schreien, die letzten Reste des spätimpressionistischen Malansatzes endgültig von der Bühne verdrängt hat. Diese Retrospektive jedoch enthüllt auch einige verblüffende Aspekte ihrer Biografie, die uns helfen, ihre Arbeit und ihr Leben noch besser zu verstehen als bisher.

Münters Eltern kamen beide in jungen Jahren nach Amerika, Münters Mutter schon als Kind. Sie heirateten in den USA und liebten ihre Wahlheimat mit einer Intensität, wie sie nur Einwanderer kennen. Wegen des Ausbruchs des Amerikanischen Bürgerkriegs kehrten sie nach Deutschland zurück, und Gabriele Münter wurde 1877 in Berlin geboren. Ihr Vater starb, als sie neun Jahre alt war, und ihre Mutter, die sich nach ihrer Rückkehr nach Deutschland dort nie zu Hause fühlte, starb etwas mehr als ein Jahrzehnt später. Gabriele Münter wurde im Alter von 20 Jahren zur Waise.

Noch in ihrer Trauer machten sich Münter und ihre Schwester auf den Weg in das Land der Träume ihrer Mutter. Ihr Schiff landete in New York, und sie reisten durch die Weiten Amerikas, durch Missouri, das Land des mächtigen Mississippi, und durch Texas, ein Ort mit endlosen Horizonten und einem riesigen Himmel, der so blau und offen ist, dass die Seele frei wird. Ihre Verwandten mütterlicherseits schenkten ihr zu ihrem 22. Geburtstag eine Boxkamera (die Kodak Bull’s Eye No. 2). Auf dieser zukunftsweisenden Reise in die gewaltige Schönheit Amerikas schulte Münter ihr fotografisches Auge und formte ihren Sehsinn. Sie kehrte mit etwa 400 Fotos nach Europa zurück.

Wenn wir diese zweijährige (1898–1900) amerikanische Odyssee in Gabriele Münters prägenden Jahren als Künstlerin betrachten, können wir vielleicht einige Hinweise finden, die uns ihre großartige Arbeit noch tiefgehender erschließen lassen. Wenn wir uns die starken Linien ansehen, mit denen sie ihre Landschaften abgrenzt, und wenn wir die Weite betrachten, die sie mit Farbe schafft – eine völlig einzigartige Vision in der expressionistischen Bewegung – sehen wir vielleicht das Werk einer Malerin, deren künstlerisches Auge an denselben Orten wie das von Ansel Adams und Georgia O’ Keeffe geschult wurde. Wir haben nur noch nie die Verbindung zwischen dieser Ikone des deutschen Expressionismus und dem wilden, unbändigen amerikanischen Westen hergestellt.

Max Oppenheimer erlebte das Fin de Siècle in all seiner chaotisch-dekadenten mitteleuropäischen Pracht. Gabriele Münter erlebte die Jahrhundertwende im Land von Annie Oakley, Buffalo Bill und der offenen Prärie. Gabriele Münter ist eine vollendete Künstlerin, deren Leben und Werk für uns auch in Zukunft unermessliche Schätze der Kunst- und Kulturgeschichte bereit hält.

Dr. Renée Gadsden lebt und arbeitet in Wien.

Gabriele Münter. Retrospektive
20.10.2023 – 18.2.2024
Leopold Museum
MuseumsQuartier
Museumsplatz 1
A-1070 Wien
Tel.: +43-1-525701555
Mo + Mi – So 10 – 18 Uhr
Eintritt: 15 €, erm. 11 €
www.leopoldmuseum.org

Text: Dr. Renée Gadsden
Bild: Leopold Museum
Erstveröffentlichung in kunst:art 94