Tastend im semiotischen Feld
Oft ist es in einem Roman gerade der unzuverlässige Erzähler, der uns bei der Stange hält. Auslassungen, Leerstellen oder andere am Narrativ verstellte Schrauben erhöhen nicht nur die Spannung, sondern verdeutlichen umso mehr das Gesagte. Auch in der Kunst lässt sich das semiotische Feld, das aus visuellen, räumlichen und kulturellen Codes besteht, in diesem Sinne neu beräumen. Ein Ansatz, der in vielen Positionen zu finden ist. Das Haus am Waldsee in Berlin präsentiert nun mit den Künstlerinnen Jenna Bliss (* 1984) und Carol Rhodes (1959–2018) zwei Perspektiven, die sich mit etablierten Narrativen auseinandersetzen, indem sie Fakt und Fiktion miteinander vermischen und so über das unzuverlässige Erzählen neue Sichtweisen offenlegen.
Den politischen Diskurs anregend, forscht die US-Amerikanerin Jenna Bliss mittels Filmen, Fotografien, Skulpturen und Collagen zu in der Gesellschaft oft randständig behandelten Themen. Im einstündigen Dokumentarfilm „The People’s Detox“ aus dem Jahr 2019 beleuchtet Bliss den Kampf für eine progressive Drogenpolitik in einer New Yorker Klinik in den 1970er-Jahren. Bürgerrechtler und Heroinabhängige besetzten ein Hospital, um kollektive und experimentelle Wege der medizinischen Versorgung auszuloten. Im Video „Professional Witnesses“ lässt Bliss Schauspieler die geskripteten Erlebnisberichte echter Zeugen des Anschlags vom 11. September 2001 in New York wiedergeben und bedient sich dabei der damals zeitgenössischen Werbeästhetik. Durch diese Verschiebung zur Sichtbarkeit der Inszenierung stellt sie unter anderem den Begriff der „Professional Witnesses“, der Menschen und ihren Umgang mit faktischer Erinnerung umfasst, in ein neues Licht. Schließlich befragt Jenna Bliss mit den Fotoserie „Drone“ aus dem Jahr 2021 das aufnehmende Medium, die Kamera, und ihre kulturelle Deutungshoheit – stehen Kameradrohnen doch sowohl in kartografischer Nutzung für Zwecke der Zivilgesellschaft wie auch für Zwecke der Kriegsführung. Die collagierten Bilder entziehen sich einer Standortbestimmung und spielen so künstlerisch mit den Mitteln dieser Technik.
Ähnlich hinterfragt die schottische Malerin Carol Rhodes vogelperspektivisch anmutende Landschaften und ihre Authentizität. Die 2018 verstorbene Künstlerin komponiert postindustrielle Kulturlandschaften mit ihrer Straßeninfrastruktur und Versiegelung zu abstrakten Strukturen, die dem Betrachter aus der Aufsicht präsentiert werden. Unlogische Fehlstellen oder der Auftritt anderer Elemente unterstreichen die artifiziellen Eingriffe, die sich in der Perspektive, der Bilddimension oder der Farbigkeit der Darstellung äußern können. Das Haus am Waldsee versammelt Werke, die in der Schaffensphase der Künstlerin zwischen 1993 und 2015 entstanden – darunter sind auch Zeichnungen und Skizzen der Künstlerin, die den komplexen Entstehungsprozess ihrer Kunst beleuchten.
Die Journalistin Karolina Wrobel ist sowohl in der Hochkultur, als auch in der Berliner Lokalszene zu Hause.
Jenna Bliss
Carol Rhodes
beide Ausstellungen 2.2. – 5.5.2024
Haus am Waldsee
Argentinische Allee 30
D-14163 Berlin
Tel.: +49-30-8018935
Di – So 11 – 18 Uhr
Eintritt: 8 €, erm. 5 €
www.hausamwaldsee.de
Text: Karolina Wrobel
Bild: Haus am Waldsee
Erstveröffentlichung in kunst:art 96