Die Zeichnung als suggestive Projektions- und Reflexionsfläche
Ein Smartphone entspringt einer Brotscheibe, ein Insekt wird zum menschlichen Kopf, ein Kopf transformiert zum Insekt, aus einer Wunde fliegt ein Flugzeug, Blut tropft auf ein Buch, Beine formen einen Schafskopf, ein Käfer bohrt sich durch eine Wolke: willkommen in der facettenreichen, fragmentarischen wie zugleich komplexen Welt des Künstlers Yves Netzhammer, in einem faszinierenden künstlerischen Kosmos, in dem der menschliche zum tierischen Körper und die zärtliche Umarmung zur schmerzhaften Verwicklung werden kann. Die Zeichensprache des 1970 in Schaffhausen geborenen Künstlers lebt von Metamorphosen und surrealen Elementen.
Der international gefeierte Schweizer Künstler präsentiert nun im Kunstmuseum Solothurn eine beeindruckende Einzelausstellung, die seine einzigartige Zeichenkunst in den Mittelpunkt stellt. Sein Markenzeichen ist der einfache Strich, der in großen bewegten Wandbildern und Videoinstallationen zum Leben erwacht. Netzhammer schafft komplexe Landschaften aus menschlichen, tierischen, pflanzlichen und insektenartigen Elementen, die in ständiger Verwandlung neue Formen und Objekte bilden. Die Hand, ein wiederkehrendes Motiv in Netzhammers Werken, spielt eine zentrale Rolle und wird in endlosen Schleifen dargestellt, sich dabei in verschiedene Körperteile verwandelnd. Gleichsam nimmt uns der Künstler an die Hand, führt uns durch die Ausstellung im Kunstmuseum Solothurn, die sich über das gesamte Parterre erstreckt. Blatt für Blatt, respektive Raum für Raum, erkennen wir in dem riesigen Zeichenblock Netzhammers ineinanderfließende Projektionen, seine starken visuellen Suggestionen, die je nach Sichtweisen und Erfahrungshorizonten unterschiedlich erkannt, beschrieben und interpretiert werden können. Netzhammer knüpft an die lange Tradition des Mediums der Zeichnung als Projektions- und Reflexionsfläche an und bringt sie schließlich in die technologische wie sozialpolitische Gegenwart.
Die Präsentation besteht aus sieben Räumen, die in ihrem assoziativen Netz poetische Kapitel darstellen und in einer raumfüllenden Panoramadarstellung kulminieren. In aktuellen animierten Zeichnungsfilmen entfaltet sich dabei das unerschöpfliche Potenzial der Linie, die sich ständig verwandelt und neue Formen annimmt. Netzhammers Kunst reflektiert über kunsthistorische Gattungen und untersucht sich verändernde Identitäten. Der Künstler prägt so unsere Sinne für komplexe Übersetzungsmanöver zwischen verschiedenen Bildtechnologien und räumlichen Dimensionen. Folgt man dem Liniengeflecht, so erkennt man auf der raffiniert ausgelegten zeichnerischen Fährte ein thematisches Muster, das von Liebe und Gewalt handelt, den Alltag und die Magie sowie das Aushalten von Ambivalenz und Widersprüchlichkeit offenlegt. Trotz allgegenwärtigen Konflikten ist Netzhammers Kosmos von Grund auf von Empathie getragen, und der Titel der Ausstellung „Die Welt ist schön und so verschieden, eigentlich müssten wir uns alle lieben“ verweist auf die tiefe Verbundenheit des Künstlers mit dem Kreatürlichen.
Stefan Simon lebt und arbeitet als freier Journalist in Süddeutschland.
Yves Netzhammer. Die Welt ist schön und so verschieden, eigentlich müssten wir uns alle lieben.
bis zum 12.5.2024
Kunstmuseum Solothurn
Werkhofstr. 30
CH-4500 Solothurn
Tel.: +41-32-6269380
Di – Fr 11 – 17 Uhr, SA + SO 10 – 17 Uhr
Eintritt frei
www.kunstmuseum-so.ch
Text: Stefan Simon
Bild: Kunstmuseum Solothurn
Erstveröffentlichung in kunst:art 96