Expressionismus mal drei
Keine Frage, in der Fülle von Konzepten, die nach dem allmählichen Auslaufen der Vorreiterrolle des Impressionismus um die Aufmerksamkeit des Publikums stritten, gehörte der Expressionismus zu den markantesten – und wirkmächtigsten bis auf den heutigen Tag. Nach dem Genuss all der schwelgerischen koloristischen Raffinesse der Künstler des „Eindrucks“ war man nun, kurz gesagt, versessen auf „Ausdruck“. Die neue Richtung wurde wesentlich geprägt in Deutschland, wo die Künstlergruppe der Brücke (1905 in Dresden und später Berlin) und des Blauen Reiter (1911 in München) völlig neue Konzepte entwickeln. Jenseits des Sinnlichen (oder dahinter oder darunter …) suchte man mit Emphase das Überwirkliche oder mindestens das Geistige.
Gleich drei renommierte Ausstellungshäuser im Norden Deutschlands haben sich in diesem Frühjahr des Expressionismus in allen seinen Spielarten angenommen. Zum förmlichen Markenkern des Hauses gehört die Richtung selbstredend in der Kunsthalle in Emden, entstand diese doch 1986 aus der darauf spezialisierten Sammlung des Ehepaars Nannen. Mittlerweile ist der Kernbestand durch mehrere Schenkungen erweitert worden, zuletzt durch die des Münchner Galeristen Otto van de Loo. Das nimmt man zum Anlass, in den Ausstellungsräumen des Obergeschosses eine Auswahl der Hauptwerke der Sammlung zu zeigen. „EXPRESSIONISMUS unverstanden, angegriffen, gefeiert“: Schon der Titel umreißt die Spannweite der hier zu erlebenden Auseinandersetzung um die farbgewaltige Kunst des starken, ja ungebärdigen Ausdrucks. Was einmal, zu Kaisers Zeiten, den akademisch geprägten Kunstgeschmack zu schocken vermochte, was dann von den Nazis als „entartet“ geschmäht wurde, das ist heute ganz entschieden Publikumsliebling. Die Schau zeigt nicht nur die unverzichtbaren Klassiker der Richtung wie Franz Marc, Schmidt-Rottluff oder Heckel, sondern auch Künstler, für die der Expressionismus nur eine Facette ihres Schaffens abdeckte, wie etwa Francis Picabia und Max Beckmann. Vor allem aber wird in Emden die Langzeitwirkung des expressionistischen Phänomens eindrücklich sichtbar: Wer könnte sich K. H. Hödickes Werke, die von Fetting oder Salome ohne die heftigen Vorläufer von damals denken?
Das Kunsthaus Stade, nach der Modernisierung wieder geöffnet, sieht den Expressionismus vor allem als kulturrevolutionäre Kraft im Kontext der gesellschaftlichen Verwerfungen jener Jahre, der Spannung zwischen dem als Schrecken erlebten Zusammenbruch des „Alten Europas“ vor dem Weltkrieg und den Sprengkräften der neuen Zeit. Mittendrin ein hoch innovatives künstlerisches Medium, das der Expressionismus sich nicht zufällig mit Elan zu eigen macht: der Film. Filmsequenzen stehen hier mit vollem Recht neben den herkömmlichen bildnerischen Gattungen. Im Kunstmuseum Pablo Picasso Münster schließlich schaut man besonders auf die Druckgrafik des Expressionismus, der vor allem den Holzschnitt so schätzte wegen der durch die spezifische Technik erzwungenen, dem Ausdruck so dienlichen Verknappung.
Dieter Begemann interessiert sich (auch) für die angewandte Gestaltung, Kunsthandwerk oder Design: kurz, für die Raffinessen der Dinge!
Brücke zur geistigen Welt – Meisterwerke des Deutschen Expressionismus
3.2. – 12.5.2024
Kunstmuseum Pablo Picasso Münster
Picassoplatz 1
D-48143 Münster
Tel.: +49-251-4144710
Di – So 10 – 18 Uhr
Eintritt: 12 €, erm. 10 €
www.kunstmuseum-picasso-muenster.de
Expressionismus. unverstanden, angegriffen, gefeiert
10.2. – 31.12.2024 (?)
Kunsthalle Emden
Hinter dem Rahmen 13
D-26721 Emden
Tel.: +49-4921-975050
Di – Fr 10 – 17 Uhr, Sa + So 11 – 17 Uhr
Eintritt: 10 €, erm. 7 €
www.kunsthalle-emden.de
Expressionismus in Kunst und Film
9.3. – 20.5.2024
Kunsthaus Stade
Wasser West 7
D-21682 Stade
Tel.: +49-4141-7977320
Di – Fr 10 – 17 Uhr, Mi 10 – 19 Uhr, Sa + So 10 – 18 Uhr
Eintritt: 9 €, erm. 4,50 €
www.museen-stade.de/kunsthaus
Text: Dieter Begemann
Bild: Kunstmuseum Pablo Picasso Münster
Erstveröffentlichung in kunst:art 96