Kunstgeschichte neu interpretiert
Leuchtend rote Äpfel, pralle dunkle Trauben auf großformatiger Leinwand: Die detailreichen, naturnahen
Darstellungen von reifem Obst zählen zu den bekanntesten Werken der international renommierten
Düsseldorfer Künstlerin Karin Kneffel. Durch intensive, übersteigerte Farbgebung, durch das
Wechselspiel von Licht und Schatten wecken die Bilder das Verlangen des Betrachters.
In ihrer aktuellen Ausstellung „Face of a Woman, Head of a Child“ im Museum Franz Gertsch präsentiert
die Künstlerin nicht nur einige ihrer bekannten Obstbilder, sondern insbesondere ihre neue Werkserie,
die sie in der Isolation während der Corona-Zeit angefertigt hat. Den Arbeiten mit Gesichtern von
Madonnen vorangegangen ist eine eingehende Auseinandersetzung mit Marien-Skulpturen aus dem 14.
bis 16. Jahrhundert. Auf feinsinnige Weise füllt Kneffel die unbeweglichen Gesichtsausdrücke und
starren Blicke der in Holz geschnitzten Vorbilder mit Leben, unter anderem mit Porträts von Gesichtern,
die nicht ebenmäßig sind, oder Augen, die schielen.
Diese Brüche und Unebenheiten ziehen sich durch ihr gesamtes Schaffen: Die auf den ersten Blick
geradezu naturalistisch wirkenden Bilder entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als eine Einladung,
sich intensiver mit dem Dargestellten zu befassen.
Die 1957 in Marl geborene Karin Kneffel bricht mit der Tradition der idealisierten Madonnendarstellung:
Unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale unterstreichen den Charakter und die Individualität der
dargestellten Frauen. Sie wirken durch ihre Unzulänglichkeiten zutiefst menschlich. Kleine
Schönheitsfehler können von einer Generation auf die Nächste übergehen und werden zum familiären
Erkennungsmerkmal. So wird der Gang durch die Ausstellung zu einer spannenden Entdeckungstour der
Familienzugehörigkeit, da Maria mit dem dazugehörigen Jesuskind durchgängig in einem Diptychon
präsentiert wird.
Außer der neuen Werkserie mit Madonnen, die bislang nur im Museum Kunsthaus Kleve zu sehen war,
werden einige Arbeiten der bekannten Obstbilder sowie Feuer- und Tropfenbilder zu sehen sein. Ein
weiteres Highlight der Ausstellung stellen die Werke mit Kerzen dar, in denen Karin Kneffel an ihren
Professor Gerhard Richter erinnert, dessen Meisterschülerin sie an der Düsseldorfer Kunstakademie war
und dessen Werke sie zum Teil zitiert hat. Erstmalig wird ein Bild Kneffels mit Joseph, Jesus’ Vater, in
einer Ausstellung präsentiert. Hervorgehoben werden soll der besondere Umstand, dass Joseph ein
uneheliches Kind großgezogen hat.
Die Ausstellung bietet einen Überblick über ältere, bekannte Werke der Künstlerin und stellt eine
großartige Gelegenheit dar, sich mit der neuen Werkserie mit Madonnen auseinanderzusetzen.
Karin Kneffel. Face of a Woman, Head of a Child
bis zum 1.9.2024
Museum Franz Gertsch
Platanenstr. 3
CH-3401 Burgdorf
Tel.: +41-34-4214020
Di – Fr 10 – 18 Uhr, Sa + So 10 – 17 Uhr
Eintritt: 18 CHF, erm. 14 CHF
www.museum-franzgertsch.ch
Text: Karin Gerwens
Bild: Museum Franz Gertsch
Erstveröffentlichung kunst:art 98