Alles eine Frage des Systems
Einem breiten Publikum bekannt wurde der Künstler 1993, als er auf der Biennale in Venedig den Fußboden des (unter den Nazis modifizierten) deutschen Pavillons in ein Trümmerfeld aus marmornen Eisschollen verwandelte. „Germania“, so die eigentlich ganz unschuldige italienische Bezeichnung des Gastlands auf der Gebäudefront, wurde durch den Transfer der Schrift nach drinnen zum Titel einer Katastrophengeschichte. Dass diese brachiale Aktion logischer Teilabschnitt eines langjährig begangenen künstlerischen Weges war, macht erst der Blick auf das gesamte Werk von Hans Haacke (* 1936) deutlich. Die Retrospektive in der Frankfurter Kunsthalle Schirn bietet dazu beste Gelegenheit.
Einen politischen Gedanken so (zer-)schlagend wirkungsvoll in unmittelbare sinnliche Evidenz umsetzen zu können, war die Quersumme weitgestreuter Interessen und Einflüsse. Der gebürtige Kölner kam über Kassel als Fulbright-Stipendiat 1961 in die USA. Von 1965 an wird New York zur Heimatbasis des Künstlers. In der Ostküstenmetropole jener Jahre blühte zwar die knallige und konsum-affine Pop Art, gleichzeitig aber entstand – die Proteste gegen den Vietnamkrieg entfalteten da ihren Schub – eine politisch engagierte Kunst, die vom konzeptuellen Ansatz strengster Observanz bis zum strategischen Einsatz von Massenmedien ging. Plakate und Flugschriften wurden zu effizienten künstlerischen Instrumenten. All diese Einflüsse laufen bei Haacke zusammen: Sein Werk ist knallhart in der politischen Aussage, theoretisch, oft soziologisch-statistisch grundiert, aber im selben Moment auch metaphorisch stark und zuweilen gar poetisch.
Sebastian Baden, der Direktor der Kunsthalle Schirn, fasst seine Sicht auf den Künstler, den er auch „eine Legende der politischen Konzeptkunst“ nennt, so zusammen: „Als Artist’s Artist ist er ein Vorbild für viele aktuelle Positionen. Seine großen Themen Ökologie, Institutionskritik und Demokratie sind zugleich die großen Themen der Gegenwart. (…) Es geht dem Künstler immer auch darum, die Betrachter*innen zu involvieren, sie zur kritischen Auseinandersetzung einzuladen und für die Vielfalt und Meinungsfreiheit zu sensibilisieren. Das demokratische Potenzial seines widerständigen Werkes ist gerade jetzt, in einer Zeit, in der Demokratien weltweit unter Druck stehen, von größter Relevanz.“
Nachvollziehen lässt sich diese Einschätzung schon in der öffentlich zugänglichen Rotunde des Museums am Rande der Frankfurter Innenstadt, wo Haackes „Gift Horse“ paradiert. Ursprünglich 2014 realisiert im Rahmen der „Forth Plinth Commission“ – ein prestigeträchtiger und nicht nur in Großbritannien enorm öffentlichkeitswirksamer Auftrag –, war die Arbeit eine Art von Gegen-Denkmal zur imperialen Repräsentation von Macht, wie sie den Londoner Trafalgar Square dominiert: Ein Pferdeskelett, das auf einem Live-Ticker aktuelle Börsenkurse anzeigt. Weitere internationale Leihgaben belegen Haackes systemisches Denken, das Kunst und Politik zusammenbringt.
Dieter Begemann interessiert sich (auch) für die angewandte Gestaltung, Kunsthandwerk oder Design: kurz, für die Raffinessen der Dinge!
Hans Haacke
8.11.2024 – 9.2.2025
Schirn Kunsthalle Frankfurt
Römerberg
D-60311 Frankfurt
Tel.: +49-69-2998820
Di – So 10 – 19 Uhr, Mi + Do 10 – 22 Uhr
www.schirn.de
Text: Dieter Begemann
Bild: Schirn Kunsthalle Frankfurt
Erstveröffentlichung in kunst:art 101