
Von unaufdringlicher Präsenz
Beim Realismus mit all seinen differenziellen Ausformungen ging und geht es nie um die banale Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern vielmehr um das Verhältnis von Gegenstand und Abbild. Die vielfältigen Arten dieser Transformationen, wie wir sie anfangs etwa von Gustave Courbet, gefolgt von René Magritte oder Arman und später von Chuck Close oder Duane Hanson kennen, weisen medien- und jahrzehnteübergreifend auf ein gemeinsames Phänomen hin: Realismus offenbart sich eben nicht durch seine Ähnlichkeiten, sondern durch seine Abweichungen von der Realität. Auch der Schweizer Franz Gertsch (1930–2022) darf sich dazuzählen – bekannt vor allem als Foto- oder Hyperrealist –, der seine Arbeitsweise unabhängig von amerikanischen Ausprägungen entwickelte und dessen Werke in monumentalen Leinwänden von unerbittlicher Detailtreue und Präzision mündeten.
Nicht nur für die Kunst des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen, sondern im Speziellen für jene Künstler mit realitätsbezogenen Ausdrucksformen, war das Medium der Fotografie elementar für das Spiel mit der Wirklichkeit. Sie gingen nicht von der tatsächlichen Realität aus, sondern von der indirekten Realität einer Fotografie – ebenfalls ein bewusster Ausgangspunkt für zahlreiche Arbeiten von Gertsch. Nicht zuletzt, da ein Foto stets auch eine Lichtzeichnung ist und der Schweizer Künstler zeitlebens eine Faszination dafür hegte, Licht in Farbe umzuwandeln.
Gemälde wie „Marina schminkt Luciano“ (1975) oder „Patti Smith III“ (1979) basieren auf Fotografien. Jene Übersetzungen der fotografischen Wahrnehmung der Wirklichkeit, die keinerlei Retusche verzeihen und auf das brillante Talent des Künstlers verweisen, finden sich auch in der nun ausgestellten Gräser-Serie, die nach einer mehrjährigen Abkehr von der Malerei zugunsten der Verfeinerung seines Holzschnittes, den er selbst als “ungeeignetstes Mittel” für seine Arbeit und gerade deshalb als Herausforderung empfand, entstand.
Die Intensität der präzisen Wiedergabe der stark vergrößerten Gräser aus seinem eigenen Garten potenziert sich von Mal zu Mal und verweist auf einen konzeptuellen, bisweilen meditativen Ansatz in Gertschs Schaffen. Zeigt „Gräser I“ (1995/96) noch einen großen Abschnitt des Grases, nutzt er für „Gräser II“ (1996/97), „Gräser III“ (1997) und „Gräser IV“ (1998/99) jeweils Ausschnitte aus dem ersten Bild.
Im zweiten Ausstellungsraum setzt die Kuratorin Anna Wesle den Fokus auf die Holzschnitte. Neben den Arbeiten der Serie „Schwarzwasser“, einem Fluss in der Nähe von Gertschs Wohn- und Arbeitsort in Rüschegg, deren Ausführungen auf dem klassischen Schwarzlinienschnitt beruhen, zählen auch die Porträts „Natascha IV“ (1987/88), „Dominique“ (1988), „Doris“ (1989) und „Silvia“ (2001/02) zu den Exponaten. Ebenfalls von einer fotografischen Vorlage ausgehend, entwickelte er ein neues Verfahren, indem er bei der Bearbeitung des Druckstocks das kleinste Hohleisen Punkt für Punkt in die Platte trieb. Die Resultate sind ein filigranes System aus Lichtpunkten. Der Schleier monochromer Farbe rückt die Bildhaftigkeit der Gesichter fließend und sanft ins Zentrum – gänzlich ohne aufdringliche Präsenz.
Paula Wunderlich lebt und arbeitet als Autorin im Rheinland.
Franz Gertsch. Portraits and nature pieces
22.03. – 31.8.2025
Museum Franz Gertsch
Platanenstr. 3
CH-3401 Burgdorf
Tel.: +41-34-4214020
Di – Fr 10 – 18 Uhr, Sa + So 10 – 17 Uhr
Eintritt: 18 CHF, erm. 14 CHF
www.museum-franzgertsch.ch
Text: Paula Wunderlich
Bild: Museum Franz Gertsch
Erstveröffentlichung in kunst:art 103