Fiona Tan – Geografie der Zeit

17.9.16 – 15.1.17 | MMK

Die Künstlerin Fiona Tan zählt zu den herausragenden Künstlerinnen der Gegenwart. Im Mittelpunkt der Werkschau „Geografie der Zeit“ stehen neben Hauptwerken aus ihrem filmischen OEuvre – wie die Doppelprojektion „Rise and Fall“ – die neueste Entwicklung in ihrem Werk hin zu installativen Environments. „Mit diesem Projekt setzt das MMK seine programmatische Ausrichtung fort, ‚mid-career’-Ausstellungen internationaler Künstler gemeinsam mit neuen Arbeiten zu zeigen und diese mit der Architektur des Museums in Beziehung zu setzen“, so Prof. Susanne Gaensheimer, Direktorin des MMK Museum für Moderne Kunst, über die Ausstellung.

Fiona Tan hat das Erdgeschoss des MMK 1 in einen Parcours verwandelt, auf dem sich Videoprojektionen, Audio- und skulpturale Arbeiten zu einer dichten Reflexion über das Individuum in einer aus den Fugen geratenden globalisierten Welt verbinden. Zentrale Fragen zur Identität des Menschen im 21. Jahrhundert werden dabei aufgeworfen: Wie sehen wir uns selbst und was bestimmt unsere Perspektive auf das Andere? In filmisch eindrucksvollen Bildern und Installationen erzählt Tan davon, wie die eigene Erinnerung unser Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prägt. In ihren Bildwelten lösen sich die Grenzen zwischen persönlichem und kollektiven Gedächtnis, Innen und Außen, Fiktion und Wirklichkeit auf.

Zeit, Erinnerung und Identität waren von Beginn ihrer künstlerischen Karriere zentrale Themen in Fiona Tans OEuvre. Die sieben im MMK 1 gezeigten Werke folgen diesen Leitmotiven, wobei die Künstlerin in den letzten Jahren ihre Arbeit von filmischen und fotografischen Werken auf objektbasierte Installationen ausgeweitet hat. „Mit Interventionen in die Architektur, Objektinstallationen und Archivmaterialien dehnen sich ihre filmischen Welten in den Ausstellungsraum aus. Das MMK freut sich, diese neue Entwicklung in Fiona Tans OEuvre einem breiten internationalen Publikum zu präsentieren“, erläutert Peter Gorschlüter, Kurator der Ausstellung.

Den Anfang macht die Arbeit „1 to 87“ (2014), eine weitläufige Modelleisenbahn-Landschaft, die sich über die zentrale Halle des MMK erstreckt. Der Titel steht für den Maßstab 1:87, in dem das Werk angelegt wurde. Die auf den ersten Blick idyllisch erscheinende Szenerie bekommt bei genauerem Hinsehen Risse. Der Betrachter wird Zeuge von Begebenheiten, die mit der scheinbaren Arglosigkeit des Panoramas brechen: So ereignet sich beispielsweise ein Zugunglück, während die Bewohner einer Kleingartenkolonie Gemüse ernten. Dem beschaulichen Charakter von Modell-Landschaften setzt Tan Szenen einer komplexen Realität entgegen, die sich nicht mehr durch simple Erklärungsmodelle beschreiben lassen.

In ihrem Filmtriptychon „Ghost Dwellings I–III“ (2014) rückt Fiona Tan hingegen die ökologischen und ökonomischen Folgen der Globalisierung in den Fokus. Sie besuchte drei Orte, die von Verfall und Verwüstung gezeichnet sind: Cork (Irland), das unter den Auswirkungen der internationalen Immobilienblase von 2008 leidet, die einst prosperierende Autostadt Detroit (U.S.A.), die langsam in den finanziellen Bankrott glitt, und die Sperrzone in Fukushima (Japan), die nach dem nuklearen Unglück 2011 errichtet wurde. In diesen Gegenden spürte die Künstlerin Anzeichen einer Wiederbelebung nach, einem Phänomen, das als ‚Nachernte’ bekannt ist. Der Begriff bezeichnet das Wachstum neuer Triebe, nachdem die Ernte erfolgt ist. Die filmischen Porträts dieser melancholischen Schauplätze kontrastiert die Künstlerin mit einem scheinbar behausten Environment, das den Anschein erweckt, als könne sein geheimnisvoller Bewohner jederzeit zurückkehren.

Wie ein roter Faden zieht sich die Beschäftigung mit dem Menschen und seinem Blick in eine ungewisse Zukunft durch Fiona Tans neueste Produktionen. In ihrer Arbeit „Apocalypse“ (2014) verwendet Tan eine Kamera, um Szenen des im französischen Château Angers ausgestellten
mittelalterlichen Wandteppichs „L’Apocalypse d’Angers“ (1373–83) abzutasten. Der Zyklus gilt mit seinen fast fünf Metern Höhe sowie über hundert Metern Länge als die größte erhaltene Webarbeit des Mittelalters. Ihren Aufnahmen fügte die Künstlerin einen das Bild durchlaufenden Text hinzu, welcher verschiedene Ausschnitte des Zyklus beschreibt. Gleichzeitig erinnern die vorbeiziehenden Zeilen an den nicht abreißenden Informationsfluss von heutigen Börsen- und Nachrichtentickern und stellen eine Verbindung zu Ereignissen unserer Gegenwart her, die sich in Form von Aktienkursen, Opferzahlen und Wahlergebnissen manifestieren.

Der Traum von einem utopischen Idyll und dem Streben nach Glück findet sich in einem von einer altertümlichen Legende inspirierten Hörstück. „Brendan’s Isle“ (2010) berichtet von den Abenteuern des irischen Mönchs Sankt Brendan, der sich im 6. Jahrhundert mit einem Fischerboot auf eine Seereise begab, um das Paradies auf Erden zu finden, das er nach sieben Jahren erreichte. Obwohl der genaue Ort der von Sankt Brendan entdeckten Insel nie ermittelt werden konnte, wurde sie auf historischen Landkarten vermerkt. In Tans Nacherzählung eröffnet die Geschichte
Raum für Imagination, indem sie auf das Unsichtbare anspielt.

Neben der Auseinandersetzung mit dem Lebensraum des Menschen fokussiert sich Tan in ihren Arbeiten „Rise and Fall“ (2009), „Nellie“ (2013) und „Diptych”( 2006–2011) auf das Individuum, indem sie die Verflechtung von persönlicher Identität und kultureller Prägung untersucht. In ihren filmischen Installationen greifen Sehen und Gesehenwerden, Blick und Gegenblick ineinander und verschmelzen zu einer Einheit.

Für „Rise and Fall“ filmte Fiona Tan an den Niagarafällen sowie in Belgien und den Niederlanden. Eine jüngere und eine ältere Frau scheinen denselben Raum zu bewohnen, ohne jedoch jemals aufeinanderzutreffen. Ob sich die ältere Frau ihres jüngeren Selbst erinnert, die junge Frau ihr künftiges Selbst ersinnt oder aber beide Frauen unabhängig voneinander in der Gegenwart existieren, bleibt offen. Das filmische Doppelporträt der Frauen wird durch Bilder von Wasser in verschiedenen Bewegungszuständen verbunden. Die raumgreifende Doppelprojektion bietet die Möglichkeit der Reflexion über den Fluss der Zeit sowie die Unschärfe von Erinnerungen und verweist auf das Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft, Erinnern und Vergessen.

Die Videoinstallation „Nellie“ versetzt den Betrachter an einen anderen Ort in eine andere Zeit. Inspiriert ist die Arbeit vom Leben der Cornelia van Rijn, Rembrandts unehelicher Tochter, die im Alter von sechzehn Jahren nach Batavia (dem heutigen Jakarta) emigrierte. Über Cornelias Leben ist kaum etwas bekannt; von ihr existieren keine Porträts. Diese Leerstelle in den Geschichtsbüchern ermöglichte es Tan, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Die bewegende Arbeit bildet eine Hommage an eine vergessene Frau, deren „offene Geschichte“ wiederbelebt wird.

Für „Diptych“ filmte Fiona Tan über einen Zeitraum von fünf Jahren – zwischen 2006 und 2011 – auf der schwedischen Insel Gotland Porträtaufnahmen von 15 eineiigen Zwillingspaaren Tan selbst sagt: „Dieses Projekt begann als Studie zu Synchronität und Dauer. Ich war interessiert an der visuellen Messung von Zeit. Paradoxerweise sehe ich diese Arbeit mittlerweile eher als eine Erforschung von Gleichheit, vom Konstanten und Unveränderlichen.“

Präsentiert werden die Werke in einer faszinierenden, von der Künstlerin entworfenen Ausstellungsarchitektur. Die rolltorähnliche Struktur erinnert an gewerbliche Lagerräume, kann jedoch auch als Anspielung auf die in aller Welt entstehenden Zollfreilager für Kunst und Luxusgüter verstanden werden oder als Reflexion über die Themen des Transits, der Entgrenzung und des Verlustes von Verortung und Identität.

Fiona Tan wurde 1966 in Pekanbaru (Indonesien) geboren. Sie lebt und arbeitet in Amsterdam (die Niederlande) und Los Angeles (U.S.A.). Ihr Werk wurde in zahlreichen internationalen Ausstellungen gezeigt. 2002 nahm sie an der documenta 11 in Kassel teil. 2009 vertrat sie die Niederlande auf der 53. Venedig Biennale.

 

Text: MMK | Foto: MMK
Externer Link: MMK

 

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