Ecce homo

26.10.2023 – 7.4.2024 I Kunstmuseum Basel: Gegenwart

Carrie Mae Weems, Someone to Watch Over Me, 2008

Ecce homo Carrie Mae Weems im Kunstmuseum Basel

Liebe auf den zweiten Blick: Die Werkschau „The Evidence of Things Not Seen“ ist zwar die erste Einzelausstellung der Fotografin Carrie Mae Weems in der Schweiz, aber es ist nicht das erste Mal, dass ihre Werke in einem Schweizer Museum zu sehen sind. Sie ist gewissermaßen ins Nest zurückgekehrt: Ihre Fotografien waren zum ersten Mal in der Gruppenausstellung „Tell It To My Heart: Collected by Julie Ault“ von 2013 zu sehen im Museum für Gegenwartskunst, wie das heutige Museum früher hieß.

Das Kunstmuseum Basel hat eine lange Tradition in der Präsentation von US-amerikanischer Kunst, mit vielen bemerkenswerten Ausstellungen (man denke an die Theaster-Gates-Schau „Black Madonna“ 2018). Es gibt auch ein kontinuierliches starkes Engagement für Fotografie als Kunst, zum Beispiel mit einem Schwerpunkt auf der Düsseldorfer Photoschule. Und jetzt ist es auch sehr begrüßenswert, dass uns eine Frau hinter der Linse, statt davor, präsentiert wird.

Carrie Mae Weems wird hier nicht als eine von vielen, sondern in all ihren Facetten als einzigartige amerikanische Kunstvisionärin gezeigt, deren Arbeit der letzten fünfunddreißig Jahre in den Bereichen Fotografie, Video und Installationen durch eine sprachliche Ebene ergänzt wird und so nochmals an Bedeutung gewinnt. So benutzt sie nicht nur ihre Kamera, um Kunst zu machen, sondern auch die Sprache als Material. Carrie Mae Weems liest ihre Gedichte in einer Audioinstallation, es gibt Wörter als Teil von Bildern. Das artikulierte Wort, das gestaltete Wort und eine Publikation ihrer Texte, die die Ausstellung begleitet, machen uns den eigentlichen Witz und die Poesie, die Verführungskraft und die Ambivalenz ihres fotografischen Œuvres noch deutlicher.

Zu sehen ist „The Kitchen Table“ (1990), Carrie Mae Weems’ bekannteste Serie. Meisterhaft zeigt sie uns in stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Fotos ein faszinierendes Kammerspiel aus dem Umfeld einer Frau, das sich um einen Küchentisch abspielt. Man sieht die Frau in allen möglichen Lebenslagen, umgeben von verschiedenen Personen unterschiedlichen Alters und Zustands. Dieser inszenierte Alltag wirkt so bescheiden und harmlos, aber bei näherem Hinsehen offenbart sich in der Metaebene eine scharfe und aufschlussreiche Analyse der Frau.

Für Kuratorin Maja Wismer stammt das emotionalste Werk der Ausstellung aus der Serie „The Hampton Project“ (2000), die die Taufe einer Native-American-Frau darstellt. In dieser täuschend einfachen Szene wird so viel über die Geschichte der Welt enthüllt: die Rolle der Religion, die Behandlung oder Misshandlung von Frauen und nicht-weißen Ethnien, die Rolle der Bildungseinrichtungen bei der Unterstützung unterdrückerischer Erzählungen. Diese Themen werden in der Regel nicht behandelt, von jener kleinen, meist männlichen Minderheit, die sich berufen fühlt, jene Geschichte zu schreiben, die dann angeblich für alle gültig ist. Zum Glück haben wir Weems und ihren würdevollen, eleganten Blick, der die konventionelle Geschichtsschreibung ergänzt und uns hilft, das kollektive Erbe, das wir alle teilen, besser zu verstehen.

Die Bilderwelt von Weems ist sehr emotional und manchmal düster. Einige ihrer zentralen Anliegen bestehen in der Untersuchung und Offenlegung sichtbarer Manifestationen von „Rasse“, Klasse, Gewalt, Macht und Herrschaft in unserer Gesellschaft. Carrie Mae Weems stellt vor allem Menschen dar, die nicht aus den herrschenden Klassen stammen. Ihre künstlerische Intention umfasst dabei jedoch ein Verständnis für die gesamte Menschheit, sodass sie jedes Herz berühren kann, während sie dem Publikum gleichzeitig Denkanstöße und ein anspruchsvolles fotografisches Seherlebnis liefert.

Carrie Mae Weems. The Evidence of Things Not Seen
26.10.2023 – 7.4.2024
Kunstmuseum Basel: Gegenwart
St. Alban-Rheinweg 60
CH-4052 Basel
Tel.: +41-61-2066262
Di – So 11 – 18 Uhr
Eintritt: 26 CHF, erm. 13 – 18 CHF
www.kunstmuseumbasel.ch

Text: Dr. Renée Gadsden
Bild: Kunstmuseum Basel: Gegenwart
Erstveröffentlichung in kunst:art 94