„Der Selbstmord der Lucretia“ bei Dürer und Cranach in der Alten Pinakothek München

23.01.2024 - 02.06.2024 | Alte Pinakothek

Links: Albrecht Dürer, Selbstmord der Lucretia, 1518, Rechts: Lucas Cranach d. Ä., Selbstmord der Lucretia, um 1524/30

Nackt unterm moralischen Deckmantel

Lucretia ist eine der berühmtesten weiblichen Figuren der Kunstgeschichte: Die Römerin wurde um 500 vor Christus von dem Königssohn Sextus Tarquinius vergewaltigt. Er drohte ihr damit, sie zu töten und sie des Ehebruchs mit einem Sklaven zu bezichtigen, wenn sie sich ihm widersetzte. Sie gehorchte, beging aber Selbstmord, nachdem sie ihrem Ehemann und ihrem Vater alles berichtet hatte. Die Ereignisse lösten einen Aufstand aus, der zum Sturz des Königshauses führte und den Anfang der römischen Republik einläutete.
Schon in der Renaissance war die durch die antike Literatur überlieferte Geschichte der schönen, tugendhaften Lucretia in der Malerei beliebt. Dabei stand bildthematisch meist der Augenblick im Zentrum, in dem sie sich mit einem Dolch das Leben nahm.
In der Reihe „All Eyes On“ rückt nun die Alte Pinakothek München den „Selbstmord der Lucretia bei Albrecht Dürer und Lucas Cranach d. Ä.“ unter dem Titel „Aktmodell und Tugendheldin“ innerhalb der Sammlung ins Blickfeld.
Es handelt sich dabei um zwei Gemälde (von 1518 und 1524), die trotz unterschiedlicher Gestaltung viel gemeinsam haben. Erstens wird die jeweils fast lebensgroße Lucretia nahezu unbekleidet gezeigt: Dürers Figur hat sich lediglich ein Tuch um die Hüften gelegt, während Cranachs Lucretia nichts als einen Halsschmuck sowie einen durchsichtigen Schleier trägt, den sie sich von der Taille abwärts leicht über den Körper zieht. Außerdem wirken beide seltsam unbeteiligt, was angesichts der sich überschlagenden, tragischen Ereignisse und der selbst zugefügten Schmerzen – Dürers Lucretia hat sich den Dolch schon in den Rumpf gestoßen, Cranachs Römerin setzt gerade dazu an – überrascht.
Dass es bei so viel Nacktheit nur vordergründig um die Handlung geht, wird selbst heutigen Betrachterinnen und Betrachtern klar. Die humanistisch gebildeten Auftraggeber waren vor allem an den erotischen Aspekten dieser Darstellungen interessiert, die überhaupt nur im Rekurs auf christliche, mythologische oder historische Themen realisiert werden durften.
Wie die Präsentation zeigt, reichte dieser moralische Deckmantel im 17. Jahrhundert dann nicht mehr aus: Unter Maximilian I. von Bayern (1573–1651), zu dessen Sammlung die Gemälde gehörten, erhielt Dürers Lucretia zusätzliche Lagen Stoff im Bereich des Lendentuchs, während Cranachs Akt mit einem Kleid verhüllt wurde. Pikanterweise befanden sich die Bilder in der privaten Galerie des streng katholischen Kurfürsten, wo die Tafel mit Cranachs Version vor der von Dürer befestigt war und weggeklappt werden musste, damit die leichter gewandete Figur dahinter sichtbar wurde.
Seit dem 20. Jahrhundert sind die Bilder wieder im Originalzustand zu bewundern, sollen aber heute – gerade vor dem Hintergrund aktueller Diskurse, unter anderem zum „male gaze“, also dem männlichen Blick auf den weiblichen Körper – neue Wege der Rezeption aufzeigen.

Dr. Julia Behrens ist Kunsthistorikerin und interessiert sich besonders für den Aspekt der Kunstentstehung. Sie schätzt das Gespräch mit Künstlern und geht gern ins Atelier.

Aktmodell und Tugendheldin
bis zum 2.6.2024
Alte Pinakothek
Barer Str. 27
Eingang Theresienstr.
D-80333 München
Tel.: +49-89-23805216
Di – So 10 – 18 Uhr, Di + Mi 10 – 20 Uhr
Eintritt: 9 €, erm. 6 €
www.pinakothek.de

Text: Dr. Julia Behrens
Bild: Alte Pinakothek
Erstveröffentlichung in kunst:art 96