Rivalen, nicht Freunde

bis zum 17.3.2024 I Albertina Modern

Herbert Böckl, Selbstbildnis mit blauem Hemd, 1929

Herbert Boeckl und Oskar Kokoschka in der Albertina Modern

Einen faszinierenden Einblick in die Entwicklung des österreichischen Expressionismus gibt es derzeit in Wien in einer umfangreichen Schau, die die Werke von Herbert Boeckl (1894–1966) und Oskar Kokoschka (1886–1980) zeigt. Die beiden Künstler hatten auf sehr unterschiedliche Weise einen großen Einfluss auf die Kunst des 20. Jahrhunderts. Diese Ausstellung ermöglicht es uns, ihr Leben und ihr Schaffen anhand ihrer Werke auf Papier zu vergleichen und gegenüberzustellen. Die Chefkuratorin der großartigen grafischen Sammlung der Albertina, Dr. Elisabeth Dutz, hat mehr als hundert Werke ausgewählt, die uns die künstlerische und persönliche Reise dieser beiden Künstler näherbringen.

Die Ausstellung beginnt mit einem Blick auf die Arbeit von Oskar Kokoschka vor dem Ersten Weltkrieg. Dr. Dutz wirft die Frage auf, ob Kokoschka der wichtigste Impulsgeber für die Entwicklung des frühen Expressionismus in Wien war und Künstler wie Egon Schiele stark beeindruckt hat. Drei emotional dichte Zeichnungen von Kokoschkas Geliebter Alma Mahler fallen gleich im ersten Raum der Schau ins Auge. Ihre dunklen und unruhigen Linien scheinen das Unglück der Liebesbeziehung auszudrücken. Schon in diesen frühen Werken gewinnt die innere emotionale und psychische Verfassung der dargestellten Person die Oberhand über die Art und Weise, wie Kokoschka sie darstellt.  

Herbert Boeckl, acht Jahre jünger als Kokoschka, begann seine eigentliche künstlerische Laufbahn nach dem Ersten Weltkrieg. Die Ausstellung macht uns mit seinem ganz charakteristischen Stil der Körperdarstellung bekannt, der sich stark vom Jugendstil der damaligen Zeit unterscheidet. Boeckl, ein stolzer Autodidakt, verwendet Linien und Punkte, Striche und Flächen, um Figuren zu schaffen, die den Raum um sie herum auf höchst originelle Weise einzubeziehen scheinen. Später, in den 1940er- und 1950er-Jahren, versuchte Boeckl, abstrakter zu werden, aber er blieb in seinem gesamten Werk dem Figürlichen nahe. In seiner Arbeit als Professor an der Wiener Kunstakademie führte Boeckl den „abendlichen Aktzeichenkurs“ ein, der zu einer Art Institution in der österreichischen Kunstausbildung der Nachkriegszeit wurde. Für Boeckl war es von größter Bedeutung, dass man Proportionen zeichnen konnte, und sein Unterricht und seine Ideen haben das Talent einer ganzen Generation österreichischer Künstlerinnen und Künstler direkt geprägt. 

Die Ausstellung wechselt geschickt zwischen den Werken der beiden Künstler, so dass man allein durch die Betrachtung ihrer Kunst einen umfassenden Eindruck von ihrem Leben bekommt. Boeckl heiratete jung und hatte neun Kinder. Eines der wenigen Gemälde in der Ausstellung ist ein fast lebensgroßer Akt seiner hochschwangeren Frau Maria Plahna und einer ihrer Töchter. Sie blickt den Betrachter stolz und trotzig an und stellt ihren schwangeren Bauch kühn zur Schau, während sie in knallroten Slippern steht — das Bild löste einen Skandal aus. Boeckl reiste zwar manchmal, aber sein Leben und seine Arbeit waren fest in Österreich verwurzelt, und ab Jänner 1941 war er, der sich nicht dem Nazi-Kunstgeschmack angebiedert hat, NSDAP-Mitglied. Kokoschka hatte eine entgegengesetzte Geschichte. Er wurde eine internationale Persönlichkeit, sozusagen fast gegen seinen Willen. Mit dem Aufstieg der austrofaschistischen Diktatur und dem ständig stärker werdenden Nationalsozialismus verließ er 1934 Österreich und machte Stationen in Prag (wo er seine zukünftige Frau Olda Palkovská kennenlernte), London und New York, bevor er sich nach dem Krieg in der Schweiz niederließ. Ab 1937 wurde seine Kunst von den Nazis als „entartet“ betrachtet und aus den deutschen Museen entfernt.

Ein sehr berührender Abschluss von Kokoschkas turbulentem Leben wird im letzten Raum der Ausstellung präsentiert, mit seinen Zeichnungen von Musikern, friedlichen Tieren und schließlich Blumen in seinem Garten. In auffälligem Kontrast dazu stehen Zeichnungen von obduzierten Leichen von Boeckl, Studien für sein zentrales Gemälde „Anatomie“ (1931). Die Ausstellung endet mit Boeckls aufgeschlitzten Leichen und Kokoschkas bukolischen Szenen, ein visueller Schlussakkord von erheblicher emotionaler Tiefe.

Herbert Boeckl – Oskar Kokoschka. Eine Rivalität
bis zum 17.3.2024
Albertina Modern
Karlsplatz 5
A-1010 Wien
Tel.: +43-1-534830
Täglich 10 – 18 Uhr
Eintritt: 14,90 €, erm. 12,90 €
www.albertina.at

Text: Dr. Renée Gadsden
Bild: Albertina Modern
Erstveröffentlichung in kunst:art 95