Perzeption in Endlosschleife
Kunstschaffende des 21. Jahrhunderts arbeiten multimedial, das Schubladendenken der Genres ist antiquiert und mit Bravour zeigt sich dieser künstlerische Sprung in die Jetztzeit an den Arbeiten des isländischen Künstlers Sigurður Guðjónsson, dem das Francisco Carolinum nun die erste Soloshow in Österreich widmet. Unter dem Titel „Scopes of Inner Transit“ werden in der von Susanne Watzenboeck kuratierten Ausstellung vier raumgreifende und höchst komplexe Arbeiten des 1975 in Reykjavik geborenen Künstlers gezeigt.
Das wohl wichtigste, in jedem Fall aber prominenteste Werk der Ausstellung dürfte „Perpetual Motion“ sein, mit dem Guðjónsson Island im Jahr 2022 auf der 59. Biennale in Venedig vertrat. Spätestens mit dieser Installation erlangt der Künstler, der an der Iceland University of the Arts und der Akademie der bildenden Künste in Wien studiert hat, internationales Renommee. Die multimediale Installation spielt auf einen uralten Traum der Menschheit an: das Perpetuum mobile. Jeglichen thermodynamischen Grundsätzen widersprechend sollen die nicht real existenten Konstrukte – einmal in Gang gesetzt – fortwährend, aber ohne jegliche Energiezufuhr in Bewegung bleiben. Die Partizipation generiert Guðjónsson, indem er das Publikum vor einen sechs Meter hochragenden Split-Screen treten lässt, auf dem sich in steter vertikaler Bewegung Nahaufnahmen von magnetisch angezogenem Metallstaub auf den Betrachter zu- und von ihm wegbewegen. Im Zusammenspiel mit der Sound-Ebene, die in Kooperation mit dem Komponisten und Produzenten Valgeir Sigurðsson aus dem tatsächlichen Klang von Elektromagnetismus entstanden ist, ergibt „Perpetual Motion“ eine sinneseinnehmende Gesamtkomposition, bei der die pulsierenden Materie zugleich seh- und hörbar ist und das Publikum in den Bann der erdachten, bildgewaltigen Maschinerie zieht. Eine Partitur, bei der visuelle und auditive Strukturen unaufhörlich einander antworten.
Die Erforschung von Materie, Raum und Zeit in Kopplung mit der umfassenden, beinahe meditativen Wahrnehmung durch den Betrachter steht auch in den weiteren drei gezeigten hybriden Arbeiten im Vordergrund, deren Korrelationen zwischen Visuellem und Akustischem eine elementare Konstante in Sigurðssons Œuvre darstellt. Metallisches, rhythmisches Flirren gepaart mit sich stetig bewegenden, zylindrischen Metallgittern vor einer Lichtquelle, lässt in „Fuser“ von 2017 die visuelle und auditive Erfahrung zu einer Einheit verschmelzen, wohingegen in „Oscillation“ (2022) akustisch-visuell auf das Phänomen der Oszillation angespielt wird.
In der raumgreifenden Installation „Trajectories“ (2014, mit Anna Thorvaldsdóttir) vereinen sich in Nahsicht beleuchtete, monochrome Sandkörner mit den Klängen eines Pianos, um über das Verrinnen der Zeit nachzusinnen.
Sigurður Guðjónssons mannigfaltiger Kosmos aus Technologie, Mathematik, Kunst, Sound und Akustik – unentwegt zwischen Distanz (vor dem Bildschirm stehend) und akustischen Signalen (die direkt ins Ohr gehen) changierend – zielt auf Wahrnehmungen und nicht auf Erklärungen ab, er macht die Welt vielleicht nicht verständlicher, aber empfindsamer auf wunderbar mystische Weise.
Paula Wunderlich lebt und arbeitet als freie Autorin im Rheinland.
Sigurður Guðjónsson. Scopes of Inner Transit
bis zum 12.1.2025
Francisco Carolinum Linz
Museumstr. 14
A-4020 Linz
Tel.: +43-732-772052200
Di – So 10 – 18 Uhr
Eintritt: 6,50 €, erm. 3 €
www.ooekultur.at
Text: Paula Wunderlich
Bild: Francisco Carolinum Linz
Erstveröffentlichung in kunst:art 100