Christian Wulffens Arbeiten zur Wahrnehmung

12.4. – 3.8.2025 | Kunstmuseum Reutlingen

Christian Wulffen, 1/100 – 100/100, 105/75, 100 Blatt (Detail), 1993/94

Die Formung unserer Welt

Im Leben jedes Individuums gibt es eigentlich nur zwei mögliche Zugänge zur Erscheinung der Welt: Entweder akzeptiert man den gegebenen Status quo der vorgefundenen Dinge, Räumlichkeiten und Situationen oder man versucht im Gegenteil, durch aktive Eingriffe einen Balanceakt zwischen dem „Außen“ (der vorgefundenen Realität) und dem „Innern“ (einer anderen, persönlich empfundenen Realität) selbst zu bestimmen und eventuell auch zu konstruieren. Von dieser Unterscheidung hängt oft ab, ob man die Gegend (oder auch die Form) als harmonisch und signifikant oder als disharmonisch und damit oft als störend empfindet.

Hiermit öffnet sich auch der Zugang zu den Arbeiten des deutsch-amerikanischen Künstlers Christian Wulffen – er ist Professor an der Cleveland Academy of Art –, der sehr früh erkannte, dass die Wahrnehmung (und auch die Konstruktion) der Wirklichkeit nicht nur davon bestimmt ist, wie diese konstituiert – oder konstruiert – ist, sondern vor allem welche Prämissen es gibt, damit die Wahrnehmung einer Sache überhaupt als positiv oder negativ, als signifikant oder unbedeutend oder gar schön oder hässlich und disharmonisch empfunden wird. Die „Konstruiertheit“ jeder Wahrnehmung ist durch viele verschiedene Komponenten beeinflusst und bestimmt: Die einfachste Probe, der man sich unterziehen kann, ist zu schauen, was verschiedene Leute machen, wenn ein Bild an der Wand leicht schief aufgehängt ist – nicht alle merken es und wollen es korrigieren (oder auch nicht).

Eine einfache Konstruktion von Christian Wulffen, die aus relativ schmalen Holzplatten besteht, die horizontal und vertikal in genauen Abständen angeordnet sind, kann, je nachdem, wie die Wahrnehmung jedes Betrachters konstituiert ist, als harmonisch oder auch nicht empfunden werden – womit der Künstler auch das individuelle Betrachtungs- und Wahrnehmungssystem auf die Probe stellt bei der Wahrnehmung der Strukturen im Raum und seiner Umgebung.

In letzter Zeit benutzt Christian Wulffen auch Fotografien von Architekturen und Landschaften, um die räumlichen (und strukturellen) Gegebenheiten zu verdeutlichen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf die Konstruiertheit unserer Wahrnehmung in den Vordergrund zu stellen. Auf der anderen Seite kann man genauso feststellen, ob bestimmte Eingriffe in die Natur eher ein Gegenteil von Verschönerung bedeuten, oder ob der Status quo dem eventuellen Eingriff in die natürliche Beschaffenheit der Landschaft vorzuziehen ist.

Sehr früh hat es Wulffen interessiert, wie sich Künstler bestimmte Kenntnisse über die Wahrnehmung aneignen und wie sie infolgedessen diese Strukturen verwenden: Er selbst setzt diese Erkenntnisse in seinen Arbeiten ein, indem er bestimmte Symbole verwendet, die er so platziert, dass sie durch ihre Position eine genaue „Lesbarkeit“ ermöglichen – auch davon handeln seine letzten Arbeiten. Christian Wulffen ist inzwischen Lehrstuhlinhaber am Cleveland Institute of Art. Eine interessante Sichtweise, die über unser Dasein in der Welt mitentscheidet.

Dr. Milan Chlumsky lebt und arbeitet in Süddeutschland.

Christian Wulffen. Gegenstände zum gedanklichen Gebrauch
12.4. – 3.8.2025
Kunstmuseum Reutlingen | konkret
Eberhardstr. 14
D-72764 Reutlingen
Tel.: +49-7121-3032213
Di – So 11 – 17 Uhr, Do 11 – 20 Uhr
Eintritt: 7 €, erm. 4 €
www.kunstmuseum-reutlingen.de

Text: Dr. Milan Chlumsky
Bild: Kunstmuseum Reutlingen
Erstveröffentlichung in kunst:art 103