Moderner Marsyas
Der Künstler und Dichter John Giorno (1936–2019) war das „It-Girl“ der schwulen New Yorker Kunstszene der 1960er- und 1970er-Jahre. Beginnend 1962 mit einer Affäre mit Andy Warhol, spielte er in dessen Film „Sleep“ (1963/64) eine Hauptrolle. Er war mit den Beat Poets befreundet, mit Robert Rauschenberg und Jasper Johns liiert. Giorno war die Verkörperung des Mottos „Sex, Drugs and Rock ‘n’ Roll“. „God Complex“ ist die zweite Einzelausstellung, die die Galerie Presenhuber John Giorno widmet. Neben Siebdrucken mit Wörtern und kurzen Sätzen sexueller, aber auch poetischer Natur, die größtenteils gegen Ende seines Lebens entstanden, sind auch wegweisende Arbeiten aus dem Jahr 1968 zu sehen, wie „Black Cock“ und „Dial A Poem“, ein Tastentelefon, bei dem man anrufen und sich Gedichte vorlesen lassen kann. John Giornos künstlerische Arbeit ist sehr roh und direkt — ein getreues Spiegelbild seines Lebens. Dennoch, hinter all dem Partyleben kann man eine tiefe Verletzlichkeit spüren und diese macht seine Werke für die Betrachtenden oft sehr emotional. Über den Schriftsteller Oscar Wilde aus dem 19. Jahrhundert wurde gesagt, dass die geistreiche Brillanz seiner Schriften nur ein Schatten seiner Konversation war. John Giorno scheint in die Fußstapfen Wildes zu treten, der ebenfalls homosexuell war, aber in einer Zeit lebte, in der er dafür ins Gefängnis ging, anstatt dafür gefeiert zu werden. Den Anekdoten zufolge, die man sich über ihn erzählt, scheint John Giorno eine Tour de Force gewesen zu sein, wie es Alma Mahler war.
John Giorno. God Complex
13.9. – 19.10.2024
Galerie Eva Presenhuber
Lichtenfelsgasse 5
A-1010 Vienna
Tel.: +43-1-8901743
Di – Fr 11 – 18 Uhr, Sa 11 – 15 Uhr
Eintritt frei
www.presenhuber.com
Text: Dr. Renée Gadsden
Bild: Galerie Eva Presenhuber
Erstveröffentlichung in kunst:art 99