Schützt vor Torheit und Regen nicht
Idylle, Frieden, Beschaulichkeit: Lange Zeit galt Carl Spitzweg (1808–1885) für viele als Inbegriff des deutschen Biedermeiers und damit als konservativer Advokat einer vordergründig gemütlichen, gesellschaftlich stark reglementierten Epoche. Doch das Gegenteil war der Fall. In seine genrehaften, nur auf den ersten Blick harmlosen Darstellungen des täglichen Lebens integrierte der aus einer großbürgerlichen Familie stammende Maler satirehafte Anspielungen, in denen er mit der Bigotterie und Doppelmoral seiner Zeit abrechnete.
Auch die groß angelegte Ausstellung „Der rote Schirm. Liebe und Heirat bei Carl Spitzweg“ im Kunsthaus Apolda Avantgarde macht deutlich, wie kritisch und gleichzeitig amüsiert der ewige Junggeselle dabei vorging. Die Schau, die in Kooperation mit dem Museum Georg Schäfer entstanden ist und dort bereits von März bis Juni zu sehen war, umfasst über neunzig Zeichnungen, Skizzen und Gemälde des Malers sowie seiner Zeitgenossen.
Das Thema der Liebe beschäftigte Spitzweg privat wie künstlerisch ein Leben lang. Er hatte sich um 1840 unsterblich in die Tischlermeistertochter Clara Lechner verliebt, die sich seinetwegen sogar scheiden lassen wollte. Doch dann verstarb sie an Tuberkulose und Spitzwegs Ehepläne zerschlugen sich. Mit seiner Eroberung brach der Maler sämtliche Tabus und scherte sich weder um den Standesunterschied noch um den Skandal, den eine Scheidung zur damaligen Zeit mit sich gebracht hätte. Anschließend hatte er zahlreiche „Amouren“, heiratete aber nie.
Einschlägige Symbole der Liebe waren in Spitzwegs Gemälden der auf heimlichen Wegen zugestellte Liebesbrief, Blumen und Kränze, die bei der Hochzeitswerbung eine Rolle spielten. Und eben der rote Schirm, der mit der Ausstellung zum ersten Mal, auch als für die Forschung aufschlussreiches Detail, in den Fokus gerückt wird.
Tatsächlich ist es erstaunlich, wie oft dieses Requisit im Œuvre des in München geborenen Malers auftaucht. Seine ursprüngliche Bedeutung geht auf die Hochzeitsladerinnen und -lader zurück, die im 19. Jahrhundert im bäuerlichen Milieu mündliche Einladungen zu einer Vermählung verteilten. Der Künstler erfasst jedoch nicht nur solche Momente, sondern setzt den Schirm mal als beiläufiges, mal als kompositorisch wesentliches Element in Szene: So dümpelt er zum Beispiel im Wasser neben einem in Bedrängnis geratenen „Sonntagsreiter“ (1835), der mit seinem Schimmel die Tiefe eines zu durchquerenden Gewässers unterschätzt hat, oder lehnt an der Kommode in der Stube eines älteren Gelehrten. Auch in einer Entwurfszeichnung zu Spitzwegs wohl berühmtestem Bild – Der arme Poet (1839) – hängt der rote Schirm als ramponiertes Modell unter der Dachschräge. So als seien sämtliche Herren, egal welchen Alters, nicht vor der Liebe gefeit. Ebenso wenig wie der Maler selbst.
Dr. Julia Behrens ist Kunsthistorikerin und interessiert sich besonders für den Aspekt der Kunstentstehung.
Der rote Schirm. Liebe und Heirat bei Carl Spitzweg
1.9. – 19.12.2024
Kunsthaus Apolda
Bahnhofstr. 42
D-99510 Apolda
Tel.: +49-3644-515364
Di – So 10 – 17 Uhr
www.kunsthausapolda.de
Text: Dr. Julia Behrens
Bild: Kunsthaus Apolda
Erstveröffentlichung in kunst:art 99