„Alleskünstler“ aus dem Norden

Kein Zweifel, der Mann schreckt nicht zurück vor Seltsamkeiten: Ein Gemälde aus dem Spätwerk wird beherrscht von einem am Nachthimmel schwebenden Mischwesen, montiert aus dem Leib eines Tigers und dem Oberkörper des Künstlers selbst, der einen melancholisch-skeptischen Blick auf uns, die Betrachter, wirft. Eine schmale Mondsichel und die eruptiven Strahlen einer irrealen Sonne beleuchten die rätselhafte Szene in der Höhe, schräge Regenschleier aus dichten Wolken schraffieren die am unteren Bildrand sich ausbreitende Landschaft. Dass das merkwürdige Bild Teil eines Zyklus im Zeichen des „Sterbenden Tizian“ ist, macht die Sache auch nicht einfacher …
Jens Ferdinand Willumsen war aber nicht nur ein eigenwilliger Maler, sondern das, was man damals um 1900 schlankweg als „Alleskünstler“ bezeichnete, also jemand, der an tausend Feldern der Gestaltung interessiert war. Bemerkenswert überdies, dass das lange und überaus produktive Leben des Künstlers – er wurde immerhin beinah ein ganzes Jahrhundert alt – radikale Verwerfungen der Real- wie natürlich auch der Kunstgeschichte umfasst. Erstaunlich bei all dem nur, dass der Künstler, der in Skandinavien einhellig als prägende Gestalt der Moderne geschätzt wird, bei uns (abgesehen von einigen Themenausstellungen) weitgehend durch das Raster der Wahrnehmung gefallen ist: Das Museum für Kunst und Kulturgeschichte im Schleswiger Schloss Gottorf tritt nun an, diesem Missstand abzuhelfen.
Willumsen wurde 1863 in Kopenhagen geboren, wo er sein Studium im Zeichen des Naturalismus beginnt. Darauf folgt der unvermeidliche Paris-Aufenthalt in den 1890ern, dort üben Gauguin und der Symbolismus prägenden Einfluss aus. Es ist dies aber auch die Zeit der sich rasant entwickelnden modernen Werbegrafik, ein Feld, in dem sich Willumsen sogleich erfolgreich tummelt. Neue Kunst und neues Leben: Mit „Badenden Kindern am Meeresstrand“ oder Tanzenden unter Bäumen in typisch nach-impressionistisch aufgelöster Pinselschrift bewegt sich der Künstler im Hauptstrom der Moderne. Dass Willumsen aber zu Beginn des neuen Jahrhunderts eine unübersehbar selbstbewusste „Bergsteigerin“ malt, das wäre wenig zuvor wohl undenkbar gewesen. Und das Porträt eines „Physikers“ (1913) lässt in seiner zackigen Eckigkeit und den dramatischen Lichteffekten schon die wenig späteren Filmbilder des Expressionismus erahnen. Willumsen ist in den folgenden Jahrzehnten unablässig unterwegs zwischen Dänemark, Paris, Italien und der Côte d’Azur, wo er in Cannes 1958 stirbt. So wenig wie geografisch lässt sich der Künstler stilistisch festlegen.
„Generalprobe“, so der Schleswiger Titel, läutet womöglich größere Auftritte dieses so vielseitigen Malers, Grafikers, Bildhauers, Keramikers und Architekten auch bei uns ein: Zu hoffen wäre es. Die große Schau mit ihren knapp hundert Werken zeigt neben den Gemälden unter anderem dekorative Keramiken, aber auch die von Willumsen so geliebten raumbeherrschenden Riesenformate kommen in Gottorf zu ihrem Recht.
Dieter Begemann ist Künstler und Kunstwissenschaftler, der Architektur, Design, Autos und Italien liebt!
Willumsen. Generalprobe
6.12.2024 – 2.3.2025
Museum Schloss Gottorf
Schlossinsel 1
D-24837 Schleswig
Tel.: +49-4621-813222
Mo – Fr 10 – 16 Uhr, Sa + So 10 – 17 Uhr
Eintritt: 12 €, erm. 10 €
www.schloss-gottorf.de
Text: Dieter Begemann
Bild: Museum Schloss Gottorf
Erstveröffentlichung in kunst:art 101