
Das lustvolle Stöhnen von Mutter Natur
„Es waren die Tage des Lichts, es waren die Tage der Finsterniß; es war der Lenz der Hoffnung, es war der Winter der Verzweiflung…“ Diese Worte von Charles Dickens (Übersetzung aus dem Englischen, 1859) beschreiben perfekt die emotionale Achterbahnfahrt, die die Engländerin Emma Talbot (* 1969) mit ihrer sehr charakteristischen Bildsprache vor unseren Augen entfaltet. Die Kuratorin des Kunst Haus Wien, Barbara Horvath, war erstmals auf der Biennale in Venedig 2022 von Talbots psychologischen Landschaften fasziniert. Es ist diesem glücklichen Umstand zu verdanken, dass Emma Talbot mit der Einzelausstellung „Talking Nature“ ihr Debüt auf der Wiener Kunstbühne gibt und ihre Werke erstmals in Österreich präsentiert werden.
Man spürt, dass Talbot unermüdlich nach einer neuen Bildsprache sucht, die einer Gesellschaft angemessen ist, die von der Angst vor Krankheitsepidemien und Terroranschlägen erschüttert wird, einer Gesellschaft, die vor Unsicherheit angesichts der seltsamen Wetterveränderungen und gewalttätigen Naturkatastrophen zittert. Emma Talbot zeichnet ein autobiografisches Gewirr aus gesichtslosen weiblichen Figuren, die sich windend und rutschend durch Landschaften bewegen, die Friese von halluzinatorischer, traumhafter Natur schaffen. Sie durchsetzt diese Szenen mit Sprechblasen, die Kommentare und Fragen über den Menschen und seine Beziehung zur Natur enthalten, als wären sie ihre in der Luft materialisierten Gedanken.
Gustav Klimts „Drei Lebensalter der Frau“ (1905) inspirierte das Werk, das Talbot den begehrten „Max Mara Art Prize for Women“ einbrachte und ihr einen sechsmonatigen Aufenthalt in Italien ermöglichte. Die unbehagliche Spannung des Fin de Siècle findet sich in unserer heutigen Gesellschaft wieder, und interessanterweise erinnert Talbots Formensprache an Künstler und Künstlerinnen dieser Zeit, von Klimt bis Georgiana Houghton, Hilma af Klint oder Edvard Munch. In ihren ekstatischen, vorhangartigen Gemälden auf Seide schafft sie Umgebungen, die uns umhüllen und unsere Sinne mit ihren leuchtenden Farben, verdrehten Linien und allein schon durch ihre schiere Größe betören, wie etwa „Ghost Calls“ (2021), ein 14 Meter langes Seidenbild, das als Installationsumgebung in der Ausstellung zu sehen sein wird.
Durch Zeichnen, Malen, Animieren und dreidimensionales Gestalten (ihre Worte für „Skulptur“) artikuliert Emma Talbot innere Erzählungen als visuelle Poesie, die auf ihren eigenen Erfahrungen, Erinnerungen und psychologischen Projektionen basiert. Sie kombiniert gemalten Text, figurative Darstellungen und Muster, um die Lesarten ihrer Arbeit zwischen dem Symbolischen und dem Alltäglichen zu verschieben. Die Bildsprache in ihrem Werk ist direkt und handgezeichnet, was ihm eine kraftvolle Unmittelbarkeit verleiht. Talbot begann während des Corona-Lockdowns mit der Erstellung von Animationen, indem sie ihre Zeichnungen scannte und lernte, sie in Bewegung zu setzen. Einer ihrer Filme („Keening Songs“, 2021) ist aufgrund seines Soundtracks besonders ergreifend, der sich auf das Wehklagen der professionellen Klageweiber in den gälischen und keltischen Kulturen Schottlands und Irlands bezieht. Das Werk von Emma Talbot lädt uns in ihre persönliche Verwundbarkeit ein, und es stellt sich heraus, dass ihre Reise durch die Ungewissheit des Lebens unsere eigene widerspiegelt.
Dr. Renée Gadsden ist Mitglied der Jury des 2024 Parallel Vienna
Emma Talbot. Talking To Nature
11.9.2024 – 5.1.2025
Kunst Haus Wien
Untere Weißgerberstr. 13
A-1030 Wien
Tel.: +43-1-7120491
Täglich 10 – 18 Uhr
Eintritt: 15 €, erm. 6 – 12 €
www.kunsthauswien.com
Text: Dr. Renée Gadsden
Bild: Kunst Haus Wien
Erstveröffentlichung in kunst:art 99