Der Wert des zweiten Blicks

Fotografin wäre zu wenig gesagt, um Barbara Probst zu beschreiben. Zu sehr hängt dieser Bezeichnung das Technische an, das von der unverfälschten Wiedergabe der Wirklichkeit spricht. Barbara Probst ist eine bildende Künstlerin, die mit Hilfe des Mediums Fotografie neue Wirklichkeiten erschafft, damit eher der freien Kreativität nahesteht, die eher der Malerei zugesprochen wird. Dabei sieht sie selbst ihre Arbeit vor allem auf Beobachtung basierend. Nur auf den ersten Blick ein Widerspruch.
Tatsächlich entsteht alles, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, aus einer Zusammensetzung und kreativen Verknüpfung von dem, was wir beobachten, sofern man dem Konstruktivismus glauben darf. Schon der Wechsel des Standpunktes kann dabei zu einer anderen Wirklichkeit führen, die nicht weniger mit der Realität zu tun hat als die erste. Diesem Zulassen verschiedener Standpunkte – was übrigens etwas anderes als ist als der Glaube an „alternative Fakten“ – widmet das Sprengel Museum zusammen mit dem Kunstmuseum Luzern und dem Contemporary Arts Center, Ohio, eine Ausstellung der Arbeit von Barbara Probst. Der Titel „Subjektiver Beweis“ ist also kein Oxymoron.
Der Perspektivenwechsel als Möglichkeit zur anderen Wahrnehmung spielt sich hier in der Wahl des Mediums ab. Indem dieselbe, stets sorgfältig inszenierte Szene von mehreren Kameras abgelichtet wird, zeichnet die Kamera von Barbara Probst das nach, was in der Wahrnehmung durch verschiedene Individuen geschieht. Zusammengenommen entsteht eher eine vollständigere Wirklichkeit statt einer widersprüchlichen. Und damit fast genau das Gegenteil von dem, was zuweilen als alternative Wirklichkeit verklärt wird. Sollte Probst dabei zunächst an die Möglichkeiten der fotografischen Kamera über die genaue Abbildung einer vorgefundenen Wirklichkeit hinaus gedacht haben, so scheint sich ihr Thema in der jüngeren Zeit erweitert zu haben.
Dabei sind ihre Motive vordergründig scheinbar trivial, eher zufällig aufgenommene Szenen, erratische Bilder, als sei jemand aus Versehen auf den Auslöser gekommen. Eine Straßenecke, an der ein Auto abbiegt. Angebissenes Obst, auf einer Tischplatte abgelegt – oder vergessen? Eine Häuserschlucht, in der bei näherem Hinsehen eine auf der Dachterrasse Stehende entdeckt werden kann. Die Akribie, mit der hier gearbeitet wurde, drängt sich wirklich nicht auf. Doch zeigt der Wechsel in den Blick einer anderen Kamera auf dieselbe Situation, wie sehr sich dasselbe Bild zu wandeln scheint. Die Person wird plötzlich zum Mittelpunkt, um den sich die Umgebung dreht, statt dass sie wie eine Unregelmäßigkeit in der orthogonalen Architektur zu stören scheint. Solche Bilder sind einen zweiten Blick mithin allemal wert. Erhält sich die Neugier an einem zweiten, anderen Blick auch nach Verlassen der Ausstellung, so gehen die Betrachtenden tatsächlich reicher aus dem Sprengel Museum, als sie es betreten haben.
Christian Hofmann lebt und arbeitet im Rheinland
Barbara Probst. Subjective Evidence
11.12.2024 – 9.3.2025
Sprengel Museum Hannover
Kurt-Schwitters-Platz
D-30169 Hannover
Tel.: +49-511-16843875
Di 10 – 20 Uhr, Mi – So 10 – 18 Uhr
Eintritt: 7 €, erm. 4 €
www.sprengel-museum.de
Text: Christian Hofmann
Bild: Sprengel Museum Hannover
Erstveröffentlichung in kunst:art 101